Wenns ums Überleben geht...
«Wurde dieses Tiramisu mit rohen Eiern gemacht? Dann kann ich es unmöglich essen!» Mit grossen Augen schaute mich der 10-jährige Junge an, sein Unverständnis, wie man überhaupt ein Dessert mit rohen Eiern drin essen kann stand ihm ins Gesicht geschrieben.
«Wenn man rohe Eier isst, kann man sich mit Salmonellen vergiften und dann muss man k…» Das erklärte er mir mit todernster Miene. Ich verstand in diesem Moment, dass Erbrechen für ihn das Ende bedeuten musste. Um diese Situation zu vermeiden hatte sich der Junge eine Strategie zurechtgelegt. Eine seiner Regeln lautete: «Iss niemals etwas mit rohen Eiern», eine weitere: «Wasche dir die Hände, ständig und bei jeder Gelegenheit!»
Das Spannende dabei ist, dass er selbst gar nie negative Erfahrungen mit Erbrechen gemacht hat. Die Angst vor dem Erbrechen, bzw. die Überzeugung, dass man Erbrechen eigentlich nicht überleben kann, hatte er von einem Elternteil «gelernt».
Wenn wir nun diesen Hintergrund kennen, macht seine Strategie, also ständiges Hände waschen, rohe Eier auf keinen Fall essen, etc. durchaus Sinn.
Diese Geschichte ist absolut kein Einzelfall. Kinder und Jugendliche die Schweres erlebt haben, stellen uns mit ihrem Verhalten oft vor ein Rätsel.
Wir sehen dann Kinder, die gewisse Kleidungsstücke oder Essen verweigern, die ihre Tasche niemals loslassen und ständig mit sich herumtragen, die nicht Lift fahren oder sich in Beziehungen «oppositionell» verhalten, usw. Diese Liste könnte beliebig erweitert werden.
Und hinter jedem dieser Verhaltensweisen steckt in der Regel eine Verletzung, bzw. ein Trauma, selbst erlebt, oder «vererbt». Wenn wir den Zusammenhang von Ursache und Wirkung kennen, macht das Verhalten in der Regel Sinn, dann sehen wir den guten Grund und verstehen somit auch, warum das Kind sich so verhält.
Doch leider kennen wir im echten Leben ganz oft die Ursache nicht. Weil wir die Geschichte des Kindes nicht oder nur teilweise kennen. Und ganz oft hat das Kind auch selbst keine Ahnung über diese Zusammenhänge.
Doch wenn wir grundsätzlich davon ausgehen, dass jedes Verhalten, und sei es noch so destruktiv oder «schräg», einen guten Grund hat, verändert das auf jeden Fall unsere Haltung dem Kind gegenüber. (Dies gilt übrigens nicht nur für Kinder, die Schweres erlebt haben, sondern für alle Kinder und eigentlich für alle Menschen)
Ich wünsche mir aber besonders für all diese Kinder, die Schweres erlebt haben und überhaupt für alle Kinder, dass wir alle, die wir mit ihnen zu tun haben, diese Haltung noch viel mehr verinnerlichen.
Dann würden wir uns viel weniger abschrecken lassen, von ihrem Verhalten, wir würden sie nicht bestrafen, für etwas, was aus ihrer Sicht einfach nur eine Überlebensstrategie ist, und wir würden sie nicht zwingen, zum Beispiel das Tiramisu zu essen oder ihnen verbieten die Hände zum x-ten Mal zu waschen. Vielmehr würden wir uns dem Kind fürsorglich zu wenden, Klarheit, Sicherheit und Geborgenheit schenken und so dazu beitragen, dass die Kinderherzen heilen können und die Überlebensstrategie einst nicht mehr notwendig ist und abgelegt werden kann.
Das würde ich mir wünschen und dafür schlägt mein Herz.
Ps. Die Geschichte des 10-jährigen Jungen setzt sich aus diversen wahren Begebenheiten zusammen.